Quelle Gangsta aus dem Bilderbuch: Snoop Dogg
Hip-Hop
Goldene Märchen aus dem Ghetto
Von Jonathan Fischer
17. August 2006 Auch wenn uns die Hip-Hop-Videos etwas anderes suggerieren: Schicke Limousinen, Geldkoffer und Champagner-Clubs gehören nicht unbedingt zum Lebensumfeld des typischen jungen Afroamerikaners zwischen Zwanzig und Dreißig. Und seine Hautfarbe ist alles andere als ein Geschäftsvorteil. Eine Reihe neuer Studien belegen, daß die Masse schlecht ausgebildeter junger schwarzer Männer immer mehr von der Mainstream-Gesellschaft abgekoppelt wird: Wer in der Innenstadt aufwächst, beendet nur in Ausnahmefällen die High School, hat große Schwierigkeiten, legale Arbeit zu finden, und wird mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann im Gefängnis landen - einem Ort, den ein Drittel aller schwarzen Männern zumindest einmal im Leben kennenlernt, Tendenz steigend, und das trotz seit Jahren fallender Kriminalitätsraten.
Muß man noch erwähnen, daß der schwarze junge Mann - sollte er doch mal einen McJob ergattern - im Durchschnitt nur drei Viertel des Lohnes seines weißen Kollegen erhält? Und auch noch sechs Jahre früher stirbt als jener? Hip-Hop könnte uns also eine Menge Geschichten erzählen: von Armut, Diskriminierung, dem Kreislauf der Gewalt im Ghetto. Aber hören wir irgend etwas davon in den angeblich so realistischen Texten eines 50 Cent? In den endlosen Ghetto-Beschwörungen von Ludacris, The Game, Chamillionaire oder T.I. King?
Ein Abenteuerspielplatz namens Ghetto
Sozialstudien überlassen diese schwarzen Bestverdiener lieber den Akademikern von Columbia, Princeton und Harvard. Weil sich Arbeitslosigkeit, kaputte Familien und verwahrloste Kinder nicht verkauft. Weil Armut nicht sexy ist. Wer möchte sich schon die Party von dieser häßlichen Seite Amerikas verderben lassen? Hip-Hop hat noch nie einen Hehl aus seinen zwei Hauptanliegen gemacht: die Dollarbündel zu vergrößern - und seinen Protagonisten jede Menge Ruhm einzufahren. Deshalb reden Rapper, wenn sie das Wort „Ghetto” in den Mund nehmen, meist auch nicht von den grauen, tristen Wohnblocks der inner cities, wo sozialhilfeabhängige Mütter, psychisch kranke Exhäftlinge und vaterlose Kinder leben. Sondern von einem imaginären Abenteuerspielplatz gleichen Namens: mit Homies in schweren Schlitten, coolen Freiluft-Rap-Jams und Clubs voller halbbekleideter Models, die Champagner schlürfen.
Als Chuck D vor 15 Jahren das Schlagwort von „Hip-Hop als CNN des Ghettos” prägte, hatte er die damals gerade populäre Polit-Rap-Welle im Kopf. Doch die ist längst verebbt. Hat irgend jemand „Public Enemys” neues Album „Rebirth Of A Nation” gehört? Die einstigen Helden eines als Emanzipation verstandenen Hip-Hop wie „KRS-One”, „Paris” oder „Public Enemy” vertreiben ihre Platten meist nur noch über Internet oder auf Kleinlabels. Das kann man durchaus als Preis des Siegeszuges von Hip-Hop durch den Mainstream sehen: Das Genre folgt eben genauso wie jedes andere den Regeln des freien Marktes und verkauft keine Sozialreportagen, sondern den Mythos schwarzer männlicher Straßengewalt - weil nur für letzteres eine Nachfrage jenseits der eigenen Kernszene existiert. Wen mag es da wundern, wenn viele der prominentesten Hip-Hop-Figuren - 50 Cent, Ice Cube oder der neue „König des Südstaaten-Rap”, T. I. King - zwar längst als Geschäftsmänner und Unternehmer brillieren, aber weiterhin ihre kriminelle, gewalttätige Vergangenheit ausschlachten und ihre Drogen nicht mehr auf der Straße dealen, sondern auf Platte.
Kampagne gegen Oprah Winfrey
Gänzlich skurril aber wird es, wenn besagte Gangsta-Rapper gegen andere Afroamerikaner zu Felde ziehen, die angeblich das Ghetto und seine Werte mißachten. Letzter Fall: die Hip-Hop-Kampagne gegen Oprah Winfrey. Die jenseits aller Rassen- und Klassengrenzen überaus populäre afroamerikanische Showmasterin hatte es gewagt, ihre Ablehnung der frauenverachtenden Texte mancher Songs kundzutun. Darauf brach ein Sturm der Feindseligkeit über sie herein: Ludacris und Ice Cube beschuldigten Winfrey des „Rassismus”. Und 50 Cent warf seine fünfzig Pfennig Straßenweisheit hinzu - nämlich, daß Oprah Winfreys Kritik nur der Versuch sei, bei ihrem weißen Mittelklasse-Publikum zu punkten und sie das schwarze Amerika im Stich lasse.
Natürlich ließe sich dieses Bild differenzieren, etwa mit dem erfolgreichen, politisch bewußten Mittelklasse-Rap von Kanye West. Dennoch: In den gängigen Raps spiegelt sich die Krise der amerikanischen Gesellschaft: „Wie will man jemanden zu einer ordentlichen Schulbildung animieren”, fragt etwa der ebenfalls kritische Rapper Common, „wenn auf den Straßen ein Gefängnisaufenthalt höher gehandelt wird als ein High-School-Abschluß?”
Familienvater als Untergrundkämpfer
Anders gefragt: Wer will schon Politiker sein, wenn Gangsta-Schauspieler viel mehr Einfluß haben? Busta Rhymes etwa spricht zwar davon, für die Rechte der Schwarzen einzutreten, stapelt auf seinem neuen Album „The Big Bang” aber hauptsächlich motherfuckers und bitches aufeinander. Und Ice Cube, der als Familienvater, Hollywood-Schauspieler und Unternehmer längst auf die sonnigere Seite Amerikas gewechselt ist, inszeniert sich mit „Laugh Now Cry Later” noch einmal als Gangsta und Untergrundkämpfer.
Hip-Hop hat heute mit schwarzer Emanzipation soviel zu tun wie Country mit der Farm-Aid-Bewegung. Beide Musikrichtungen teilen sich das Gros des amerikanischen Musikmarkts. Und funktionieren nach den exakt selben Gesetzen: Bewußtsein mag da ein netter Luxus sein, am Ende aber zählt die Rendite. Der permanente Bezug auf den „thug” oder Verbrecher im Hip-Hop beruht nicht zuletzt darauf: Wenn Freundlichkeit im kapitalistischen Wettbewerb allzuoft als Schwäche gedeutet wird, dann kann man kriminelles Verhalten auch als Stärke verkaufen. Dann machen Künstlernamen wie C-Murderer, Konvict und Terror Squad zumindest markttechnisch Sinn. Zumal die Konsumenten all der Hip-Hop-Alben mit den düster drohenden „Mördern” und „Zuhältern” auf dem Cover zu geschätzten achtzig Prozent in der weißen Vorstadt leben.
Für seine Phantasien liebt man Pop
Es war schon immer eine Illusion, daß Hip-Hop-Musik von Schwarzen für Schwarze sei: Vor zwanzig Jahren, also 1986, verkauften „Run DMC” von ihrer Version des Aerosmith-Klassikers „Walk This Way” drei Millionen Einheiten und ebneten den Weg der schwarzen Ghetto-Musik in die Mitte Amerikas. Ein Jahr später macht Ice-Ts Debütalbum „Rhyme Pays” den Gangsta-Rap aus L.A. zur neuen Teenage-Droge: Ice-T gab sich keinen Illusionen über seine Zielgruppe hin. Alle Verkäufe über 750.000 Einheiten, sagte er, würde er weißen Fans zuschreiben, den „Nervenkitzel-Jägern”: Für viele der Gangsta-Rap-Konsumenten verkörpert das Ghetto einen Ort des Abenteuers, der unberechenbaren Gewalt, der erotischen Phantasien - eben all jenes, was die suburbane Langeweile ihnen verwehrt. Pop wird nicht für seinen Wahrheitsgehalt geliebt. Sondern für seine Phantasien.
Wenn die meisten Gangsta-Rapper nicht ausgerechnet das Gegenteil behaupten würden: Keepin' it real. Sprich: Wir berichten nur, wie es wirklich ist. Das ist eine schwache Entschuldigung für all die Frauenverachtung, Gewaltverherrlichung und Mitleidslosigkeit, die sich in ihren Texten austoben. Damit kann man glänzend unterhalten. Und viel Kohle machen: Gangsta-Rapper Snoop Dogg etwa agierte vor ein paar Jahren in einem Hollywood-Streifen als ermordeter Zuhälter, der aus dem Grab wiederaufersteht, um sich nach zwanzig Jahren an den Überlebenden zu rächen. Nach diesem Erfolg als Schauspieler - und dank seiner Glaubwürdigkeit als ehemaliges Gangmitglied - wurde Herr Dogg plötzlich auch für Corporate America interessant. Zumindest als Werbeträger: General Motors kündigte daraufhin eine Limousinen-Sonderserie an: den Snoop DeVille Cadillac. Eine Nachbildung eines in den siebziger Jahren bei Zuhältern besonders beliebten Fahrzeugtyps und eine Hommage an eine Gangster-Ästhetik, die via Hip-Hop zur sozial akzeptierten Norm geworden ist.
Man wollte die Weißen verwirren
Keepin' it real? „Die Stärke schwarzer Musik lag immer im Surrealen”, setzt der afroamerikanische Kulturtheoretiker Robin D.G. Kelley dem behaupteten Realitätssinn kommerzieller GangstaKultur entgegen. „Was mehr zählt als die Geschichte ist das Geschichtenerzählen - schließlich ging es einmal darum, mit seinem Vortrag, die Menge der Zuhörer in Wallung zu bringen.” Das konnte durch besondere Verspieltheit, das schlagfertige Kombinieren von Worten und Metaphern oder den souveränen Einsatz von Slang gelingen. George Clinton nannte es das „Lustprinzip”: All die Kreativität schwarzer Musik, ihre Experimente mit Sprache, Stil, Gestik und Gangarten dienten immer als Quelle sinnlicher und psychischer Befriedigung. Das mußte nicht jeder verstehen. Ja, man wollte die nichteingeweihten Weißen oft vorsätzlich verwirren. „Der größte Unterschied zwischen uns und den Weißen ist, daß wir wissen, ob wir etwas nur spielen.”
Und genau hier stolpern 50 Cent und andere oft über die selbst gespannten Stricke: Sie spielen nicht mehr. Sondern posieren nur noch. Ihre Lyrics kommen so platt und eindimensional daher, daß sie auch ein Zwölfjähriger im weißen Vorort problemlos dechiffrieren kann. Für die größtmögliche Dampframmenwirkung verzichtet man da auch gern auf Wortspiele und kreativen Doppelsinn. Braucht man 50 Cents Texte überhaupt? Was er uns zu sagen hat, läßt sich problemlos an seinen Videos ablesen. Seinen Muskelpaketen, dem drohenden Blick, den Geldtaschen, den Sportwagen, den halbnackten, ihm willig ergebenen Tänzerinnen - ein plakatives Kaleidoskop männlicher Teenager-Träume.
Surreale Straßenpoesie
Dennoch: Gangsta-Rap kann seine Berechtigung haben. Und viele der besten Geschichten des Hip-Hip strotzen nur so vor Gewalt, Sex und Wahnsinn. Aber dann muß man doch etwas tiefer graben, als die Dauerrotation auf MTV hergibt: etwa bis zu Ghostface Killah, der mit seinem neuen Album „Fishscale” ein Meisterwerk der surrealen Straßenpoesie abgeliefert hat. Oder „The Coup”, wo Rapper Boots Riley ein äußerst kluges und dazu noch witziges Bild des schwarzen Amerikas zwischen Privat-Hypnose und politischer Selbstermächtigung, hedonistischer Lebenswut und Paranoia zeichnet.
Nur: Wer will so viele komplexe Wahrheiten hören? Die Plattenfirmen winken ab, die großen Radiosender spielen etwa „The Coup” nicht. Und die Vorstadt-Jugendlichen mit den „50-Cent”-Klamotten? Sie halten die Black Panther wahrscheinlich eher für ein Football-Team denn eine schwarze revolutionäre Bewegung mit Ideen, die teilweise auch heute noch bedeutsam sein können. „Das weiße Amerika hat schon immer eine perverse Faszination für die Idee schwarzer Männer als gewalttätige und sexuell unersättliche Tiere gehabt”, schreibt der Hip-Hop-Autor Ta-Nehisi Coates. „Und viele Afroamerikaner haben die Figur des Übermannes mit schwarzem Hut als Selbstbild übernommen. Es ist ein verzweifeltes Spiel einer jeder wirklichen Macht beraubter Gruppe - selbst in unserer größten Misere können wir die weißen Vorstädter noch das Fürchten lehren.”
Text: F.A.Z., 17.08.2006, Nr. 190 / Seite 37
Bildmaterial: AP